„Pilgern im Herzen der Italienischen Alpen“ ist der Titel eines Artikels, den die berühmte New Yorker Zeitung den Sacri Monti im Piemont und in der Lombardei widmet.
Pilgern im Herzen der Italienischen Alpen
Von Anna Momigliano
In der NYT vom 12. Oktober 2023
Die italienischen Alpen und Voralpen sind berühmt für großartige Landschaften, hervorragende Weine und ausgezeichnetes Essen. Was viele Reisende aber nicht wissen – die Region beherbergt darüber hinaus wahre Schatzkammern der Renaissance- und Barock-Kunst. Eingebettet in eine Kulisse aus Bergen und Hügeln finden sich in Italiens Nordwesten, gerade mal eine Autostunde von Mailand entfernt, Wallfahrtskapellen mit Skulpturen und Freskos, die von so bedeutenden Künstlern wie Gaudenzio Ferrari, Tanzio da Varallo und Pier Francesco Mazzucchelli erschaffen wurden.
Sacri Monti, „Heilige Berge“, werden die neun Wallfahrtsstätten in den italienischen Regionen Piemont und Lombardei genannt. Alle gemeinsam wurden sie von der UNESCO als Weltkulturerbe anerkannt. Die einzelnen „Heiligen Berge“ stammen aus unterschiedlichen Epochen, wurde im Verlauf von mehr als 200 Jahren erschaffen. Die älteste datiert auf das Jahr 1486, die jüngste wurde 1712 vollendet. Jeder der Orte hat seine eigene Geschichte. Einige der Sacri Monti wurden im Auftrag Katholischen Orden errichtet, zwei waren im bischöflichen Besitz, bei den anderen beiden handelt es sich um kommunale Bauwerke.
„In Italien vereinen sich Natur, Kunst und Religion in einer Weise, die das Leben der Ärmsten bereichert“, schrieb Edith Wharton 1905 in ihren Reisememoiren, „Italian Backgrounds“ (Italienische Hintergründe), nachdem sie drei der Sacri Monti besucht hatte. Wharton war schlicht überwältigt vom dort zum Ausdruck kommenden „Sinn für Harmonie und Vollständigkeit“.
Jeder der neun Orte – Varallo, Crea, Orta, Varese, Oropa, Ossuccio, Ghiffa, Domodossola und Belmonte — lässt sich leicht mit dem Auto erreichen. Doch etliche Besucher nutzen die Gelegenheit, die Wallfahrtstätte vom nächstgelegenen Städtchen aus zu erwandern. Weil die Sacri Monti weit auseinander und größtenteils an abgelegenen Orten liegen, sollten sich Ausflügler pro Tag jeweils nur eine dieser Stätten vornehmen. Wer über ausreichend Zeit und Kondition verfügt, kann auf dem Devoto Camino, einem 700 Kilometer langen Wanderweg, von einer Wallfahrtsstätte zur nächsten pilgern.
Ursprünglich waren die Sacri Monti in der Absicht errichtet worden, Pilger von der weiten und oft gefährlichen Reise ins Heilige Land abzubringen. Als sich dann aber im 16. Jahrhundert zunehmend die protestantische Lehre im Alpenraum verbreitete, sahen die Obrigkeiten der Katholischen Kirche in den Sacri Monti ein probates Instrument, um dem katholischen Glauben neue Strahlkraft zu verleihen und die Menschen unempfänglich für die Ideen der Protestanten zu machen.
Jeder Sacro Monte besteht aus mehreren Kapellen und erhebt sich auf einer Anhöhe, die grandioses Panorama bietet. Der größte ist der Sacro Monte von Varallo, der über sage und schreibe 45 Kapellen verfügt. Der Kleinste der Neun ist der Sacro Monte von Ghiffa nahe des Lago Maggiore mit seinen drei Kapellen. Was alle dieser Wallfahrtsstätten eint: In ihren Kapellen finden sich lebensgroße Statuen und Wandfresken, die Szenen aus der Bibel oder aus dem Leben der von Katholiken verehrten Heiligen darstellen. Durch das Zusammenspiel von bemalten Wänden und Bildhauerei wird eine theatralische Wirkung erzielt, die Wharton als „etwas zwischen Pantomime und Skulptur“ beschrieben hat. Alessandra Filippi, Reiseschriftstellerin und Kunsthistorikerin aus Venedig, beschreibt die Skulpturen-Ensembles in den Sacri Monti als “tableaux vivants”, als „lebende Bilder“.
Im March habe ich ab Mailand mit dem Auto ich zwei der Wallfahrtstätten besucht –
Varallo und Crea
Varallo
Der Sacro Monte von Varallo, der älteste und wohl bekannteste seiner Art, war die erste Station meiner Erkundungstour. 1486 wurde dieser Wallfahrtsort auf Geheiß des Mailänder Franziskanermönchs Bernadino Caimi angelegt. Die Absicht des Franziskaners war es, ein „Neues Jerusalem“ in den Alpen zu bauen. „Nach dem Fall von Konstantinopl waren Pilgerfahrten nach Jerusalem zu gefährlich geworden“, erzählt mir der Kunsthistoriker Lucca Di Palma von der Katholischen Universität in Mailand. „So reifte in Caimi die Idee, die wichtigsten Stätten des Heiligen Lands in Italien nachzubauen, damit Gläubige zu diesen, anstatt zu den Orten im Heiligen Land, pilgern konnten.“ Der Sacro Monte von Varallo, nur wenige Kilometer vom Ort Varallo gelegen, wartet mit einigen Dutzend Kapellen und etwa 800 Skulpturen auf, die von Ferrari, Giovanni d’Enrico und Tanzio da Varallo erschaffen wurden. Drei Arten von Kapellen lassen sich unterscheiden. Im verkleinerten Maßstab stellen sie die biblischen Orte Nazareth, Bethlehem und Jerusalem dar. Heute lässt sich der Sacro Monte von Varallo bequem mit dem Auto oder auch mit der Seilbahn erreichen. Die kleine Wanderung ab der Ortschaft Varello dauert ungefähr eine Stunde. Wer am Sacro Monte übernachten möchte, kann dies in dem Jahrhunderte alten Hotel Vecchio Albergo Sacro Monte tun, zu dem auch ein Restaurant gehört, das sich auf Piemonteser Küche spezialisiert hat.
Zu den eindrucksvollsten der 45 Kapellen von Varello zählt zweifelsohne diejenige, die sich der Ankunft der Heiligen Drei Könige im Stall von Bethlehem („Arrivo dei Magi“) widmet. In ihrem Inneren zeigen Statuen von Gaudenzio Ferrari, einem der Meister der italienischen Renaissance, die drei weisen Männer aus dem „Morgenland“, die der biblischen Geschichte zufolge dem neugeborenen Jesus ihre Aufwartung machen.
Eindrucksvoll auch die Kapelle mit dem Titel „Ecce Homo“, die aus dem frühen 16. Jahrhundert stammt und von dem Bildhauer Giovanni d’ Enrico sowie dem Maler Pier Francesco Mazzucchelli gestaltet wurde. Hier ist zu sehen, wie Pontius Pilatus den von Peitschenhieben verwundeten Jesus mit der Dornenkrone vor die aufgebrachte Menge führen lässt.
Varallos größter Schatz aber ist „unsere Sixtinische Kapelle.“ Sió nennt mein Guide die Kapelle Nummer 38. Hier wird die Kreuzigungsszene mit mehr als 80 lebensgroßen Skulpturen, erschaffen von Ferrari und seinen Schülern, dargestellt. Die Figur des sterbenden Jesus am Kreuz wird umgeben von vielen anderen Figuren – allen voran die weinende Maria, daneben römische Soldaten, die mit Würfeln spielen, und ein Hund.
Ich habe mich in der Kapelle umgesehen, begleitet von Rita Regis, einer der Guides der Wallfahrtstätte. Extra für mich hat sie die Kapelle aufgeschlossen. Wie gebannt war ich angesichts der überwältigenden Fülle der Skulpturen und konnte nicht anders als mich als Teil der dargestellten Szene zu fühlen. „Sehen die nicht aus wie Leute, die man hier an jeder Ecke treffen kann?“, fragt mich Regis scherzhaft als sie auf die weniger gutaussehenden Figuren deutet.
Zu Ferraris Lebzeiten, im ausgehenden 15. und frühen 16. Jahrhundert, konnten die Pilger zwischen den Figuren herumspazieren. In späteren Jahrhunderten blieb der Eingang in die Kapellen von Varallo mit versperrt. „Während der Gegenreformation wurden Holz- und Eisengittern angebracht“, erklärt Kunsthistoriker Di Palma, „Denn dass Pilger direkt neben einer Jesu- stehen konnten, erschien zu dieser Zeit völlig unangemessen. Also wurden die Gitter angebracht, durch die Betrachter die Szenerie nur von außen und aus einem bestimmten, von der Kirche vorgegebenen Blickwinkel, betrachten konnten.“ Heutige Besucher profitieren davon, dass die Gitter die Kunstwerke im Laufe der Jahrhunderte vor Beschädigungen bewahrt haben. Heute darf aber auch wieder in den Innenraum der Kapellen eingetreten werden– im Rahmen von geführten Touren werden wie für mich – die Gitter aufgesperrt.
Crea
Umgeben von den Weinbergen von Monferrato liegt der Sacro Monte von Crea auf einem Hügel unweit des Dorfes, dem er seinen Namen verdankt. Gegründet wurde diese Wallfahrtstätte 1589 von Costantino Massino, dem Prior eines nahegelegenen Klosters. Anders als an anderen Sacri Monti wurden die 23 Kapellen von Crea mit einigen Kilometern Abstand zueinander erbaut. Durch Wanderwege sind sie miteinander verbunden.
Lohnend ist die Einkehr in das gute Restaurant von Crea, das in einer früheren Pilgerherberge residiert und unter anderem eines der besten „Vitello tonnato“ (Spezialität der Piemontesischen Küche mit Kalbfleisch und Thunfischsauce) serviert, die ich je gegessen habe.
Ich besuchte den Wallfahrtsort an einem Wochenende im März, als der Besucheransturm ziemlich stark war. Aber nur wenige Touristen ließen durch die Absperrungen ins Innere der 23 Kapellen führen. Sie haben wirklich etwas verpasst. Vor allem die 23. Kapelle, in der die Krönung der Maria dargestellt wird, ist atemberaubend.
Freundlicherweise hat mir Franco Andreone, mein Guide, die Absperrung geöffnet, so dass ich den im 17. Jahrhundert gestalteten Innenraum aus nächster Nähe bewundern konnte. Hier war der flämische Architekt und Bildhauer Jan de Wespin – genannt „il Tabacchetti“ – am Werk. Die mit Fresken und Reliefs geschmückte Decke zeigt Propheten und Heilige, während Dutzende Engelsskulpturen, gesichert durch ein Metallnetz, triumphierend über den Köpfen der Besucher von der Decke schweben.
Tipps für Ihren Besuch
Ausführliche Informationen über die neun Sacri Monti gibt die offizielle Website Sacrimonti.org. Die Wallfahrtstätten und die Kunst in ihrem Innenräumen können auch mit einer App erkundet werden. Die App schafft es, einen Eindruck davon zu vermitteln, wie die ersten Pilger die Kapellen erlebt haben.
Ein Besuch des Sacro Monte von Varello lässt sich als Tagesausflug ab Mailand oder Turin einfach planen. Wer übernachten möchte, kann in einem Hotel am Eingang zur Wallfahrtsstätte reservieren (DZ ab 88 Euro), ein Ticket für die Seilbahn, die Varello und seinen Sacro Monte verbindet, kostet 5 Euro. Vorab buchbar ist eine geführte Besichtigung.
Ebenso wie Varello ist auch der Sacro Monte von Crea leicht von Mailand oder Turin aus zu erreichen. Wenn Sie in Crea übernachten möchten, empfiehlt sich ein Agriturismo in der Weingegend von Monferrato. Von dort aus lässt sich auch ein Tagesausflug in das Anbaugebiet des Barolo unternehmen. Um den Monte Sacro von Crea mi seinen Kapellen bestmöglich bewundern zu können, empfiehlt sich eine geführte Besichtigung.